Die Magie des Nordens – eine Weihnachtsgeschichte

Hoch oben im Norden liegt Lappland. Es ist so weit im Norden, dass zu Weihnachten immer Schnee liegt. Nicht nur das, jeder Baum trägt dort ein weißes Kleid. Dort oben gibt es keine großen Städte mehr, nur bunt verteilte Häuser. Im Winter und besonders zur Weihnachtszeit schafft es die Sonne nicht mehr aufzugehen. Vormittags fängt es an zu dämmern und der Himmel verfärbt sich gelb und orange. Zur Mittagszeit erreicht der Himmel dann ein tiefes Blau und kaum ein Augenzwinkern später sind rosa Schlieren zu sehen und es wird wieder dunkel. Wer jetzt denkt, dass dies eine durch und durch deprimierende Zeit ist, der täuscht sich. In dieser Zeit ist die Magie fast mit den Händen greifbar und wer einmal dort war, wird es verstehen.

In einem der weit verstreuten Häuser lebte die kleine Alva zusammen mit ihren Eltern. Wie immer an Heiligabend blieb sie morgens lange im Bett liegen, weil es draußen noch dunkel war. Zum Glück war für diesen Tag schönes Wetter vorhergesagt und so würde es ein wenig länger hell sein als mit Wolken am Himmel. Sie schlug die Decke zurück und tapste gähnend zum Fenster. Draußen glitzerte es und im schwachen Schein des Dämmerlichts wirkte die Welt draußen magisch. „Endlich Weihnachten“, dachte sie und war plötzlich überhaupt nicht mehr müde. Sie zog sich an und ging in die Küche, wo schon ein prächtiges Frühstück bereitstand. Es gab Lachs und Eier und süßes Gebäck. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Gemeinsam mit ihren Eltern setzte sie sich an den Tisch und sie genossen das Frühstück.

Nach dem Frühstück freute Alva sich bereits auf den Abend. Da würde sie endlich Geschenke auspacken dürfen. Sie hoffte so sehr, dass sie das Stoffrentier bekommen würde, das sie sich sehnlichst wünschte. Vor einigen Wochen hatte sie extra einen Brief an den Weihnachtsmann geschrieben, in dem sie ihm von ihrem Wunsch erzählt hatte. Auch, dass sie das ganze Jahr brav gewesen war, hatte sie hinzugefügt. Dann hatte sie den Brief gemeinsam mit ein paar selbst gebackenen Plätzchen in den Umschlag gesteckt und an den Nordpol adressiert. Nun war es endlich so weit und sie konnte es kaum erwarten.

Um sich abzulenken beschloss Alva, ein wenig draußen im Schnee zu spielen. Die Straße führte nur zu ihrem Haus, sodass sich dorthin nur selten ein Auto verirrte. Auch sonst lebten sie so einsam, dass nichts zu befürchten war. So durfte Alva allein draußen spielen, solange sie sich nicht zu weit vom Haus entfernte. Sie zog ihren warmen Schneeanzug und die dick gefütterten Stiefel an, setzte eine Mütze auf und schlüpfte in ihre Handschuhe. Sie winkte Mama und Papa in der Küche zu, dann riss sie die Haustür auf und sprang hinaus. Draußen war es so hell, wie es in dieser Zeit der Polarnacht nur werden konnte, und bald würde es schon wieder finster werden. Tief atmete sie die klare Luft ein.

Alva fiel auf, dass vor der Tür dieses Jahr noch gar kein Schneemann stand. Wie sollten sie denn richtig Weihnachten feiern ohne Schneemann? Das ging gar nicht! Also fing sie an. Sie formte mit ihren kleinen Händen einen winzigen Schneeball, den sie nun quer über das Grundstück rollte. Im Zickzack ging es hin und her, bis sie eine riesige Schneekugel aufgerollt hatte. Diese schob sie jetzt unter Aufwendung all ihrer Kräfte dicht an die Haustür, um dort den Schneemann zu errichten. Anschließend wiederholte sie die Prozedur, um die mittlere Kugel zu formen.

Plötzlich wurde ihr Blick von einem weißen Schneehasen abgelenkt, der nur wenige Meter neben ihr saß. Er schaute sie an und sie sah zurück. Was für ein wunderschönes Tier. Dann fing er an loszuhüpfen, geradewegs in den Wald hinein. Alva überlegte nicht lang und lief hinterher. Wie aufregend. Vielleicht führte der Hase sie zu weiteren Hasen und sie würde am Heiligabend zum ersten Mal überhaupt einen Schneehasen streicheln können. Dass Mama und Papa ihr immer sagten, es wäre nicht möglich, ignorierte sie gerne. Der Hase sprang fröhlich durch den Wald, mal links an einem Baum vorbei, mal rechts. Zwischendurch rutschte etwas Schnee von einem Ast herunter und brachte die Luft zum Glitzern. Alva lief hinterher und staunte. Sie konnte sich nicht vorstellen irgendwo anders als hier zu wohnen. Was gab es Schöneres als einen verschneiten Winterwald?

Mittlerweile hatte es angefangen zu schneien. Der sowieso schon stille Wald wurde durch die herunterfallenden Schneeflocken noch leiser. Irgendwann war ihr warm und völlig außer Atem blieb sie stehen. Mit dem Häschen konnte sie nicht mehr mithalten, auch wenn das sehr schade war. Sie streckte den Kopf in Richtung Himmel und fing ein paar Schneeflocken mit ihrer Zunge. Dann sah sie sich um. Ihr fiel auf, dass es schon ganz schön dunkel geworden war. Die Bäume nahmen zusätzlich noch etwas von dem wenigen Licht, das es eh nur gab. Wo war sie eigentlich? Wie war sie nur auf die Idee gekommen blind so tief in den Wald zu laufen?

Es wurde Zeit, dass sie zurückging. Mama und Papa machten sich bestimmt schon Sorgen. Aus welcher Richtung war sie gekommen? Da! Ganz leicht konnte sie noch ihre Fußspuren erkennen. Sie folgte ihnen und versuchte sie im Halbdunkel weiterhin zu erkennen. Auf einmal blieb sie stehen. Da waren keine Fußspuren mehr. Der Schnee musste sie bereits wieder zugedeckt haben. Sie fröstelte. Wie sollte sie nun nach Hause finden? Eine Träne rollte aus ihrem Auge. Sie war alleine mitten im Wald, es war dunkel und niemand wusste, wo sie war. Erschöpft setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum. So schön diese kalte, weiße Einsamkeit war, so gefährlich war sie auch, wenn man sich verlief. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen.

Als sie die Augen wieder öffnete, war etwas anders. Plötzlich fielen keine Schneeflocken mehr vom Himmel. Und es war auch nicht mehr wirklich dunkel. Stattdessen war alles in ein magisches, grünes Licht getaucht. Sie blickte nach oben und stieß einen verzückten Schrei aus. Am Himmel bewegten sich grüne Bänder umher. Sie wurden stärker und schwächer, länger und kürzer. An den Rändern schimmerten sie pink. Es war einfach wunderschön. Sie sah nicht zum ersten Mal Nordlichter, doch irgendetwas war heute besonders. Wenn die Welt und dieser Abend so magisch waren, dann würde sie nicht länger hier sitzen und die Hoffnung aufgeben. Entschlossen sprang sie auf ihre Füße. Leider half ihr das nicht herauszufinden, in welche Richtung der Weg nach Hause lag.

Während sie noch nachdachte, wie sie nach Hause kam, hörte sie es leise im Schnee rascheln. Sie drehte sich um und sah hinter sich ein Rentier. Es hatte ein riesiges, wunderschönes Geweih und das Fell glänzte im grünlichen Schein. Über der Nase hatte es einen kleinen weißen Fleck in Herzform. Träumte sie? Im Gegensatz zu all den anderen Rentieren, den sie bisher begegnet war, trug dieses kein Halsband. Stand da vor ihr tatsächlich ein wildes Rentier? Ruhig blieb sie stehen, um das Tier nicht zu erschrecken. Doch das Rentier hatte keine Angst. Im Gegenteil. Jetzt kam es auf sie zu und stupste sie sanft mit seiner warmen Nase an. Dann ging es an ihr vorbei, blieb aber nach ein paar Schritten stehen und drehte den Kopf zu ihr herum. Wieder ein paar Schritte vorwärts und umdrehen. So ging es ein paar Mal, bis Alva verstand, dass sie ihm folgen sollte.

Es war der Heiligabend und wenn ihr Verstand sie nicht zurück nach Hause bringen konnte, dann vielleicht Magie. So folgte sie dem Rentier durch den von Nordlichtern erhellten Winterwald. Ohne zu zögern wusste es, wo es lang gehen musste. Es vergaß nie, sich nach ihr umzudrehen und zu schauen, ob sie noch da war. Aber das hätte es gar nicht gemusst, sie würde vernünftig sein und ihm brav folgen. Nach einiger Zeit sah sie einen gelben Schimmer zwischen den Bäumen aufblitzen. Konnte das sein? War das ihr Haus? Sie rannte los, an dem Rentier vorbei, auf das Licht zu. Je dichter sie kam, umso klarer wurde es und sie erkannte ein Fenster.

Kurz blieb sie stehen und blickte zurück. Das Rentier bewegte den Kopf nach unten, als wolle es nicken. Das Herz über der Nase reflektierte das grüne Licht. Dann drehte es sich um und lief zurück in den Wald. Alva sah ihm noch einen Moment hinter und winkte. Dann flüsterte sie „danke“ und ging auf das Haus zu. In diesem Moment sprang die Tür auf und ihre Eltern stürzten heraus. Sie hatten Tränen in den Augen und drückten sie fest an sich. Trotz langen Suchens hatten sie Alva nicht finden können und dann im Haus noch gewartet, in der Hoffnung, dass sie heimfinden würde. Es war schließlich Heiligabend und an Heiligabend war alles möglich.

Nachdem sich alle gemeinsam vom Schrecken erholt hatten und Alva ausführlich erzählt hatte, ließen sie sich am Kamin neben dem Weihnachtsbaum nieder. Es war Zeit für die Bescherung. Mittlerweile war Alva gar nicht mehr so aufgeregt, schließlich hatte sie die Magie bereits erfahren und ein Geschenk war nur ein Geschenk. Trotzdem packte sie ihr Geschenk freudig aus. Und dann hielt sie ihr Stoffrentier in der Hand. Über der Nase hatte es ein kleines weißes Herz.

Hoch oben im Norden, in Lappland, da glauben die Menschen noch an Magie. Und wer einmal dort war, der wird es verstehen.

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