Es ist sicher etwas verrückt, zuerst über das Ende einer Reise zu berichten. Dafür habe ich jedoch einige gute Gründe. Gut? Naja, definitiv Gründe. Zum einen ist das vorzeitige Ende meines Jakobswegs das Thema, das mir gerade besonders auf der Seele brennt. Ich spüre einen richtigen Drang, darüber zu schreiben, um es besser zu verarbeiten. Zum anderen lassen sich drei Wochen voller Menschen, Erlebnisse und Emotionen nicht in einen Blogbeitrag quetschen. Ich habe jeden Tag viele Seiten in meinem kleinen Tagebuch gefüllt und muss mir erst einmal überlegen, wie ich das am besten mit der Welt teile.
Der Traum vom Jakobsweg
Bevor ich mich mit dem Ende beschäftige, möchte ich wenigstens ein paar Worte zum Abenteuer Jakobsweg verlieren. Nachdem im Jahr 2020 eine gewisse Pandemie meinen Plan zum Pilgern auf dem portugiesischen Jakobsweg vereitelt hatte, lagen der Pilgerpass und die Jakobsmuschel herum und warteten auf ihren Einsatz. Während ich nun Anfang des Jahres in der Schweiz saß und nicht wusste, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, erstellte ich eine Liste mit Zielen für dieses Jahr. Als ein Punkt darauf tauchte eine Fernwanderung auf.
Ich entschied mich, im September den Camino Frances von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela zu gehen. Knappe 800 Kilometer auf den Spuren Hape Kerkelings. Jetzt war es nicht mehr nur eine vage Idee, sondern ein konkreter Plan. Und so machte ich mich am 27. August auf den Weg nach Frankreich, um meinen Traum wahr werden zu lassen, an meine Grenzen zu gehen und mich neu kennenzulernen.
Der Anfang vom Ende
Es ist der 17. Tag meiner Wanderung. Langsam habe ich mich daran gewöhnt, auch längere Etappen zu gehen und bin dem normalen Etappenplan bereits einen ganzen Tag voraus. Obwohl es mich nicht wirklich reizt, früher anzukommen, gefällt es mir, an meine Grenzen zu gehen und viele Stunden am Tag zu wandern. So habe ich mir auch für heute wieder das Ziel gesetzt, insgesamt 27 Kilometer zu gehen. Doch was ich bereits gelernt habe, es kommt immer anders als man denkt.
Aus meinem Tagebuch:
Die ersten Schritte fühlen sich erholt und frisch an. Doch das Vergnügen ist kurz. Ganz leise und langsam schleicht sich ein penetranter Schmerz in die Ferse meines linken Fußes. Bei jedem Schritt sticht er zu. Alle Versuche, den Schmerz zu ignorieren, scheitern. Ein ziemlich hartnäckiger Begleiter.
Nach etwa 10 Kilometern erreiche ich Sahagún, eine etwas größere Stadt. Bevor ich das Zentrum erreiche, führt der Weg mich an den Bahngleisen und dem Bahnhof vorbei. Zuvor habe ich niemals auch nur den Gedanken daran verschwendet, einen Bus oder Zug zu nehmen. Jetzt denke ich erstaunlich ausführlich über den Bahnhof und mögliche dort fahrende Züge nach. Mir tat in den letzten Wochen schon fast jeder Teil meines Körpers weh, doch dieser Schmerz in meiner Achillessehne ist anders. Instinktiv weiß ich, dass er nicht einfach so verschwinden wird. Dass dies kein Schmerz ist, bei dem Ignorieren und Weitergehen die beste Medizin ist.
So schleicht sich der Gedanke, ich könnte es möglicherweise nicht bis nach Santiago schaffen, in meinen Kopf – ebenso langsam und unwiderruflich wie der Schmerz in meinen Fuß. Es ist ein Gedanke, der unvorstellbar ist, den ich nicht einmal denken möchte. Aufgeben stand für mich nie zur Debatte. Ich hatte ein Ziel vor Augen, das ich erreichen würde. Plötzlich ist das alles nicht mehr so sicher, nicht mehr so zweifelsfrei. Ein vorzeitiges Ende meines Jakobswegs ist nicht mehr ausgeschlossen.
An diesem Tag laufe ich keine 27 Kilometer, sondern nur 20. Mein Fuß bekommt viel Aufmerksamkeit in Form von Voltaren, Dehnübungen und Tipps von anderen Pilgern.
Zwischen Hoffnung und Verzweiflung
In den folgenden Tagen liegen die schönen und die furchtbaren Momente unendlich nah beieinander. Immer wieder keimt Hoffnung in mir auf: Ich gehe eine Weile fast ohne Schmerzen, bekomme Kurkuma-Tabletten von Iris aus Albanien geschenkt, die Dänin Charlotte massiert mir professionell meine Wade. Ich möchte daran glauben, dass es noch weitergeht, dass die Schmerzen genauso plötzlich verschwinden, wie sie aufgetaucht sind.
An dieser Stelle muss ich einmal einschieben, dass es kein übler Schmerz war, wegen dessen ich Schmerzmittel hätte schlucken müssen. Es war ein dauerhafter leichter Schmerz, der manchmal stärker war und gerade im Liegen nahezu verschwand. Anders wäre das vorzeitige Ende meines Jakobswegs nicht weniger traurig, aber doch einfacher zu akzeptieren gewesen. So jedoch befand ich mich auf dem schmalen Grat zwischen Aufhören und Weitermachen, wo beide Richtungen möglich erschienen.
Neben diesen Hoffnungsschimmern raubt mir der Gedanke an das Aufgeben immer wieder fast den Atem. Jeden Morgen schlüpfe ich in meine Wanderschuhe und spüre in diesem Moment, dass meine Achillessehne sich nicht über Nacht selbst geheilt hat. Jeden Tag werden die Etappen, die ich gehe, kürzer. So richtig kann ich meine Wanderungen nicht genießen, bin ich doch mit halbem Kopf immer bei meinem Fuß und erörtere, ob die Schmerzen stärker werden. Trotz langsameren Tempos komme ich nach 16 Kilometern bereits am frühen Mittag in der Herberge an. Somit ist das Gehen nicht mehr die Hauptbeschäftigung des Tages, sondern nur noch ein kleiner Teil. Das zerrt an meinen Nerven und es fällt mir immer schwerer, eine positive Haltung zu bewahren.
Ich bin es leid, jedem von meinem Fuß zu erzählen, aber lügen möchte ich auch nicht. Wenn ich gefragt werde, wie es mir geht, dann ist gut eben nicht die Wahrheit. Manchmal versuche ich mein Gedankenchaos herunterzuspielen und mache Witze. Ein paar Tage kürzere Strecken gehen, etwas dehnen und dann wird das schon wieder. In diesen Momenten versuche ich selbst daran zu glauben, doch es fällt mir zunehmend schwerer. Seit drei Tagen hat sich nichts geändert. Wie lange soll ich mir noch diese Geschichte erzählen?
Der Zusammenbruch und ein letzter Versuch
Am vierten Tag mit Schmerzen mache ich mich auf den Weg nach León. So gut sich die Massage meiner Wade gestern Nachmittag angefühlt hat, so wenig hat sie an meiner Achillessehne geändert. Irgendetwas in mir explodiert und plötzlich kommt mir der Gedanke, dass dies der letzte Tag sein könnte.
Aus meinem Tagebuch:
Tiefpunkt. Nervenzusammenbruch. Die Tränen fließen und fließen, meine Verzweiflung wird immer größer. Ist León das Ende für mich? Mein linker Fuß wird nicht besser, dafür macht der rechte inzwischen auch minimale Probleme. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. So macht es keinen Spaß. Was, wenn der Fuß nicht besser wird? Will ich wirklich so nach Santiago gehen, so ankommen? Bald kommen Berge. Der Teil, auf den ich mich freue – eigentlich. Doch mit meinen Schmerzen werde ich sie kaum genießen können. Was, wenn ich heute Schluss mache? Abreise? Ist das dann aufgeben? Oder ist es die logische Konsequenz? Ich bin fast 500 Kilometer gegangen, 3 Wochen nonstop. Dabei habe ich gelacht, geweint, die Natur bewundert, die Straße verwünscht. An einigen Tagen habe ich tiefgründig nachgedacht, an anderen Podcasts gehört oder mich unterhalten. Auf meinem Weg habe ich wundervolle, inspirierende, interessante Menschen getroffen und mit einigen viel Zeit, mit anderen nur einen Abend verbracht. Ich habe viel gelernt und will noch weiterwachsen, mir noch mehr vertrauen, mich selbst schätzen. Reicht das, um nicht von Aufgeben zu sprechen? Ich möchte so gerne die richtige Entscheidung treffen: ein paar Tage Pause oder weitergehen oder abreisen? Doch da ist kein richtig oder falsch. Ich weiß nicht, wie es sich nach der jeweiligen Entscheidung weiterentwickeln wird. Was mein Fuß tun wird. Ich möchte auf meinen Bauch hören, doch der ist stumm. Mein Kopf wirft mit zu vielen Argumenten und Gegenargumenten um sich, die alle ihre Berechtigung haben.
Ich rufe Aumi an, meinen Ruhepol, und erzähle ihm meine Gedanken. Vor lauter Schluchzen versteht er mich kaum und versucht, mich zu beruhigen. Doch das bringt mich immer mehr in Fahrt. Wie ein Mantra führe ich ihm meine Argumente für das Abbrechen vor, ohne zu wissen, worauf ich hoffe. Er schlägt vor, mich irgendwohin zu setzen und ganz in Ruhe über alles nachzudenken. Keine unüberlegten Entscheidungen aufgrund von starken Emotionen zu treffen. Das hilft mir alles nicht und ich beende das Gespräch. Ganz langsam atme ich durch und trockne meine Tränen.
In León setze ich mich schließlich in einen Park und schreibe meine Gedanken nieder. Wie immer hilft es, mich zu beruhigen und etwas klarer zu denken. Zum ersten Mal seit Beginn des Weges breche ich meine Regel, das Internet nicht zum Recherchieren zu verwenden. Nach einiger Suche finde ich ein Einzelzimmer zu einem annehmbaren Preis in Virgen del Camino, sieben Kilometer entfernt und der nächste Ort entlang des Weges. Ich buche zwei Nächte und gebe mir selbst so einen Tag Aufschub. Eigentlich weiß ich wohl in diesem Moment schon, dass ich das vorzeitige Ende meines Jakobswegs nur hinauszögere. Doch ich bin noch nicht bereit, alles hinter mir zu lassen. Dieser zusätzliche Tag ist wichtig für mich.
Es ist vorbei
Angekommen in meinem Einzelzimmer hüpfe ich unter die Dusche, um den Schweiß des Tages abzuwaschen. Anschließend kuschele ich mich unter die überdimensionale Bettdecke und verbringe den Nachmittag und Abend mit Lesen. Mein Kopf verfängt sich vollkommen in der Geschichte und so bleiben mir Gedanken bezüglich meines Fußes erspart. Am nächsten Morgen schlafe mich richtig aus und gehe den Tag gemütlich an. Doch so ein Tag ist lang, wenn es nichts zu tun gibt und meine Sorgen holen mich natürlich ein.
Aus meinem Tagebuch:
Bevor ich den Park verlasse, mache ich ein wenig Yoga. Mein Körper genießt es, meine Seele schwebt leicht dahin und für einen Moment bin ich wunderbar entspannt. Meine Ferse fühlt sich gut an und Hoffnung entsteht in mir. Bis ich mein Hostal erreiche. Keine Ahnung warum, aber kurz vor der Tür macht sich der inzwischen schon gewohnte Schmerz wieder bemerkbar. Verdammt! Ich lege mich ins Bett, dämmere im Halbschlaf dahin. Als ich mich gerade fertig mache, damit ich noch eine Kleinigkeit essen gehen kann, ploppt eine Nachricht von Aumi auf: Machst du morgen einen Tag Pause oder gehst du weiter? Warum genau kann ich nicht ganz fassen, aber die Frage macht mich wütend und depressiv. Vorbei ist es mit meiner Gelassenheit. Es folgt ein Videocall, indem ich Krokodilstränen weine und unsere gemeinsame Zukunft anzweifle. Das alles nur wegen einer simplen Frage. Den Rest des Abends verbringe ich bei Airbnb und bei Google. Wo gibt es Ferienhäuser, was gibt es Wissenswertes zu meinen Schmerzen? Mittlerweile bin ich meilenweit von meinem Offline-Leben und „ich lasse jeden Tag auf mich zukommen“ entfernt. Das Einzige, was ich gerade wirklich will – und brauche – ist das Weitergehen. Genau das sollte ich aber lassen, wenn ich mir keine schwere Entzündung zuziehen möchte. Ich fühle mich gefangen in meinem Kopf, ausweglos. Suche andere Probleme, nur um diesem hier zu entfliehen. Ich liebe das Wandern. Es macht mich so glücklich. Doch mit den Schmerzen ist das Gegenteil der Fall. Es fühlt sich nicht mehr richtig an, meine Gedanken kreisen um den Fuß, die Freiheit scheint weit entfernt. Ich möchte nicht aufhören zu gehen, das ist doch mein Traum.
Noch bis tief in die Nacht hinein bin ich Google ausgeliefert. Irgendwann schlafe ich erschöpft und aufgewühlt ein. Beim Aufwachen am nächsten Morgen gibt es keine Ausreden, kein Aufschieben mehr. Es ist vorbei und ich muss akzeptieren, dass mein Traum an dieser Stelle, nach 470 Kilometern endet. Der Weg zum Bus – entgegen der Richtung des Jakobsweges fühlt sich falsch an, ich komme mir verloren vor. Alles an mir möchte in die andere Richtung gehen, immer weiter. Doch ich weiß, tief in mir, dass ich das Richtige tue. Ich gebe meiner Gesundheit den Vorrang. Das ist stark, sehr stark.
Ein paar Tage später
Noch immer habe ich die ganzen Eindrücke nicht verarbeitet. Manchmal habe ich das Gefühl, eine andere Person sei diesen Weg gegangen und ich würde nun von außen auf diese Erinnerungen schauen. Meine Achillessehne tut weiterhin weh und macht mir damit deutlich, dass es meine eigenen Erinnerungen sind. Gleichzeitig bestärkt es mich in der Richtigkeit meiner Entscheidung. Das vorzeitige Ende meines Jakobswegs war berechtigt, sogar notwendig. Doch ansonsten fühle ich gerade nicht viel, lasse die Gefühle vielleicht gar nicht zu. Das ist in Ordnung, ich gebe mir Zeit. Währenddessen versuche ich langsam in mein Leben außerhalb des Jakobsweges zurückzufinden, es mir neu aufzubauen. So aufzubauen, dass ich mich damit identifizieren kann.
Aus meinem Tagebuch:
Ich bin 470 Kilometer zu Fuß durch Spanien gegangen, war die meiste Zeit offline, habe mich besser kennengelernt, einen Alltag entwickelt, Menschen getroffen, Zeit alleine verbracht. Ich habe ein unglaubliches Abenteuer erlebt, an das ich mich (hoffentlich) immer erinnern werde. Es ist nicht das Ende, dies ist der Anfang. Der Anfang meines selbstbestimmten Lebens, indem ich meine Träume lebe und die Meinung der anderen zunehmend unwichtiger finde.