Sonntag, 08.04.2018:
7 Uhr morgens: Der Wecker klingelt, der Himmel ist strahlend blau und in der Luft liegt bereits die Andeutung eines warmen, sommerlichen Tages. Beste Voraussetzungen also für ein gutes Training. Im Gegensatz zu den letzten Malen bin ich etwas aufgeregt.
Vielleicht, weil ich nicht von zu Hause aus losgehe, sondern mit der Bahn anreise.
Vielleicht, weil ich tatsächlich einen Wanderweg mit Unebenheiten und Steigungen bewältigen werde.
Vielleicht, weil die Bilder meiner Wanderstrecke einfach atemberaubend schön aussehen. Vielleicht, weil meine Blasen leider immer noch nicht verheilt sind.
Vielleicht, weil 40 km ziemlich viel klingen, wenn man nach 30 km schon erschöpft ist.
Etwas Aufregung und Respekt können jedoch nicht schaden. Bepackt mit Blasenpflastern, 2,5 Litern Wasser und belegten Brötchen sowie Obst und Gummibärchen sitze ich eine Stunde später in der Bahn. Mein heutiges Ziel: der Heidschnuckenweg. Geplant sind Etappe 1 (Fischbeker Heide – Buchholz, 26 km) und Etappe 2 (Buchholz – Handeloh, 15 km). Von der S-Bahn zum Wanderweg stehen ebenfalls 2 km an, was in der Summe 43 km macht.
Der Start des Heidschnuckenwegs begrüßt mich mit der Schönheit der Fischbeker Heide, eine absolute Empfehlung, auch für kürzere Wanderungen. Die sanften, von Heide bewachsenen Hügel, durchsetzt mit jungen und alten Kiefern, lassen mich vergessen, dass ich mich noch in Hamburg befinde. Ich stecke mein Handy weg und beschließe den Kennzeichen am Weg zu folgen. Guter Plan – schlechte Umsetzung. Man sollte auch den richtigen Pfeilen folgen. Nachdem ich zum Weg zurückgefunden habe, folge ich dann den richtigen Zeichen und wandere munter den Weg entlang. Ich genieße die Freiheit in der Natur und fühle mich wie im Urlaub.
Die Fischbeker Heide wird von einem Wald abgelöst. Die Wege sind von Wurzeln durchzogen und ich muss gut auf meine Schritte achten. Immer wieder geht es ein Stück steil hinauf und wieder hinunter. Bergauf keuche ich ganz schön, aber meine Beine machen gut mit und der abwechslungsreiche Weg ist angenehm.
Etliche Kilometer später wird der Wald von Wiesen und Feldern, Autobahnen und Orten abgelöst. Dieser Teil der Strecke ist zwar eigentlich weniger anstrengend, zehrt aber mehr an den Nerven und der Kopf fängt an sich zu wünschen, dass es nicht mehr so weit sei bis Buchholz. Ich spüre meine Blasen immer mehr und rolle meinen Fuß Kilometer um Kilometer verkehrt ab, was ich wiederum in meinen Beinen spüre.
Bei Kilometer 25 gönne ich mir meine erste richtige Pause, fast eine halbe Stunde sitze ich in der Sonne. Ich ziehe die Schuhe aus, wechsele die Blasenpflaster und versuche mich nicht abschrecken zu lassen von der Größe meiner Blasen. Es wird etwas gegessen und getrunken und neue Kraft gesammelt. Die Erschöpfung in den Beinen ist bereits jetzt deutlich zu spüren, die Steigungen haben gut dazu beigetragen. Kaum erholter geht es danach weiter.
5 km später habe ich Buchholz erreicht. Ich schleppe mich mehr durch die Innenstadt als dass ich gehe und habe nicht einmal die Motivation nach einer Eisdiele zu schauen, obwohl das Wetter geradezu nach einem Eis schreit. Hinter dem Bahnhof ist die erste Etappe dann offiziell geschafft und auf meinem Handy sind bereits 30 km zu sehen, dank meines Umwegs in der Heide. Eigentlich möchte ich aufgeben, ich sitze leidend am Straßenrand und will nie wieder aufstehen. Der Bahnhof liegt direkt vor mir, dort könnte ich mich in einen Zug setzen. Aber dann würde ich im Zug sitzen statt in der Sonne zu sein und von irgendwo erwacht wieder mein Ehrgeiz. Entgegen aller Vernunft entscheide ich mich weiter zu gehen.
Ab hier ist jeder Kilometer eine Qual, immer öfter setze ich mich hin und trinke etwas, das Wasser geht zur Neige. Wie ein Mantra sage ich mir, dass ich bloß einen Fuß vor den anderen setzen muss, nichts weiter. Ich schaffe 5 km, dann 10 km. Zwischendurch kommen mir die Tränen in die Augen, aber ich gehe weiter. Alles schmerzt und ich weiß nicht mehr, warum ich mir das überhaupt antue. 2 km habe ich noch vor mir. Ich weiche vom Wanderweg ab und wähle den kürzesten Weg in Richtung Bahnhof. 1 km vor dem Ziel finde ich eine Bank an der Hauptstraße und beende meine Wanderung, ich werde abgeholt. Die Motivation, doch noch bis zum Etappenschild zu gehen kann ich einfach nicht aufbringen.
Ich bin K.O. und auch irgendwie enttäuscht und hoffnungslos. Dann sehe ich mir die Daten an. Ich bin fast 44 km gewandert, das sind 14 km mehr als beim letzten Mal. Insgesamt bin ich 600 Meter und hoch und wieder runter gelaufen. An einem Punkt, an dem ich eigentlich nicht mehr konnte, bin ich noch 14 km weiter gelaufen. Trotz meiner häufigen Pausen war ich immer noch in dem Zeitrahmen, in dem ich 100 km in 24 Stunden schaffen würde. Ich war komplett alleine unterwegs und habe ich mich doch so weit durchgeschlagen. 2 Tage später ist der Muskelkater zwar noch deutlich spürbar, aber er ist vereint mit Stolz. Und der Ehrgeiz ist wieder erwacht.
Vielleicht schaffe ich beim Megamarsch 60 km.
Vielleicht finde ich eine Gruppe, der ich mich anschließen kann und die mich mitzieht.
Vielleicht haben die 10 km, die eigentlich nicht mehr gingen, einen guten Trainingseffekt erzielt.
Vielleicht darf mich allein die Tatsache, dass ich mich freiwillig diesem Training unterziehe, diese Disziplin aufbringen kann und über 40 km alleine gewandert bin, verdammt stolz machen.
Eine längere Trainingswanderung steht nicht auf dem Plan, ob ich eine Nachtwanderung mache, weiß ich noch nicht. Alleine nachts fühle ich mich nicht richtig sicher, ich habe Angst. Aber wenn ich meine Gedanken gut genug steuern kann, dann kann ich auch nachts weiterlaufen. Zunächst versuche ich, meine Blasen auszukurieren, auch wenn ich dafür auf eine Trainingseinheit verzichte. Meine nächste Wanderung wird vermutlich im Urlaub in Portugal stattfinden – nicht die schlechteste Aussicht. Bis dahin erhalte ich mir das gute Gefühl, bereits jetzt schon Unglaubliches erreicht zu haben.